AK Blasenfunktionsstörung

Auszug aus Leitlinien Blasenfunktionsstörungen
G. Primus (Vorsitzender), H. Heidler et al.*)

DEFINITIONEN

A. Symptome des unteren Harntrakts (LUTS = Lower Urinary Tract Symptoms)

Symptome sind subjektive Zeichen einer Krankheit oder einer Veränderung des Gesundheitszustandes, die vom Patienten, der Pflege oder den Angehörigen empfunden werden und die Veranlassung sind, professionelle medizinische Hilfe zu suchen. Diese Symptome werden spontan oder auf Befragen mitgeteilt (Anamnese), ergeben jedoch keine definitive Diagnose.
 

Speichersymptome werden während der Speicherphase der Blase empfunden:
– Pollakisurie
– Nykturie: charakterisiert durch Unterbrechung des nächtlichen Schlafes zur Blasenentleerung
– Imperativer Harndrang: plötzliches Auftreten eines starken Harndrangs, der nur schwer beherrscht werden kann
– Harninkontinenz: jeglicher unfreiwilliger Harnverlust
– Belastungsinkontinenz: unfreiwilliger Harnverlust aufgrund von körperlicher Anstrengung, Husten oder Niesen
– Dranginkontinenz: unfreiwilliger Harnverlust in Zusammenhang mit imperativem Harndrang
– Mischinkontinenz: unfreiwilliger Harnverlust in Zusammenhang mit imperativem Harndrang und auch mit körperlicher Anstrengung, Husten oder Niesen
– Enuresis: unfreiwilliger Harnverlust, der während des Schlafes auftritt
– Kontinuierliche Harninkontinenz: kontinuierlicher Harnverlust
– Weitere Sonderformen der Harninkontinenz: Kicher-Inkontinenz (Giggle- Inkontinenz), Inkontinenz während des Geschlechtsverkehrs
– Komplizierte Harninkontinenz: Harninkontinenz vergesellschaftet mit rezidivierenden Harnwegsinfekten, Hämaturie, Schmerzen im kleinen Bekken, Miktionsbeschwerden, Beckenchirurgie, Bestrahlung, Verdacht auf Fisteln, signifikantem Restharn, ausgeprägtem Genitalprolaps, Verdacht
auf Harntraktanomalie und Rezidivinkontinenz
– Blasensensitivität: hier wird eine normale, gesteigerte, fehlende und indirekte Blasensensitivität unterschieden
 

Entleerungssymptome werden während der Entleerungsphase der Blase empfunden:
– schwacher Harnstrahl
– unterbrochener Harnstrahl
– Startschwierigkeiten
– Miktion mit assistierter Bauchpresse
– terminales Nachtröpfeln
 

Symptome nach Blasenentleerung – Restharngefühl
– Postmiktionelles Harnnachträufeln:
im Falle eines unfreiwilligen Harnverlustes unmittelbar nach Beendigung der Miktion, normalerweise nach Verlassen der Toilette bzw. nach Aufstehen von der Klomuschel.
 

Urogenitale Schmerzsyndrome setzen das gleichzeitige Bestehen von verschiedenen Symptomen inklusive urogenitaler Schmerzen in Abwesenheit von Infektionen oder anderen pathologischen Ursachen voraus.
– Schmerzsyndrom der Harnblase: charakterisiert durch suprapubischen Schmerz bei zunehmender Blasenfüllung, begleitet von anderen Symptomen wie Pollakisurie, Nykturie, imperativer Harndrang u.ä. (anstelle des Terminus: interstitielle Cystitis).
– Chronisches Schmerzsyndrom des kleinen Beckens: ist das Zusammentreffen von persistierenden oder intermittierenden Episoden von Schmerzen im kleinen Becken, vergesellschaftet mit Symptomen des unteren Harntrakts, mit sexuellen, gynäkologischen oder Stuhldysfunktionen. Syndrom bei Dysfunktionen des unteren Harntraktes (LUTD = Lower Urinary Tract Dysfunction):
– Überaktive Blase ist ein Syndrom mit imperativem Harndrang bis zur Dranginkontinenz, Pollakisurie und Nykturie.
– Syndrom der Entleerungsstörung

B. Klinische Befunde, die Hinweise auf eine Dysfunktion des unteren Harntraktes (LUTD) liefern

Meßsysteme
– Miktionskalender: Aufzeichnung der Miktionszeiten über zumindest 24 Stunden.
– Miktionsprotokoll: Aufzeichnung der Miktionszeiten sowie der Miktionsvolumina über zumindest 24 Stunden.
– Miktionstagebuch: Aufzeichnung der Miktionszeiten, der Miktionsvolumina, der Inkontinenzepisoden, der Verwendung von Vorlagen sowie weitere Informationen wie Flüssigkeitsaufnahme, Ausmaß des imperativen Harndranges und Ausmaß der Harninkontinenz. Aus Miktionsprotokoll und Miktionstagebuch können Aussagen getroffen werden über:
– Miktionsfrequenz tagsüber
– Nykturie
– Miktionsfrequenz in 24 Stunden
– 24 Stunden-Harnproduktion
– Polyurie: ist definiert als 24 Stunden Harnproduktion von mehr als 2,8 l (Referenzwert für eine Person mit 70 kg Körpergewicht, die somit über 40 ml/kg Körpergewicht in 24 Stunden produziert).
– Nächtliches Harnvolumen: totales Harnvolumen zwischen Zubettgehen und Aufstehen.
– Nächtliche Polyurie: liegt vor, wenn ein erhöhter Anteil der 24 Stunden- Harnproduktion nachts besteht. Die normale nächtliche Harnproduktion ändert sich mit dem Alter, sie beträgt etwa 20 % bei jungen Erwachsenen und 33 % bei über 65-jährigen von der 24 Stunden-Harnproduktion. Maximales Miktionsvolumen ist das größte Harnvolumen, das durch eine einmalige Miktion entleert wurde. Das bei Kindern zu erwartende Miktionsvolumen errechnet sich aus der Formel:
Alter in Jahren x 30, ggfs. (Alter in Jahren + 2) x 30.

Klinische Untersuchung
– Harninkontinenz: Beobachteter Harnverlust während der klinischen Untersuchung aus der Harnröhre oder extraurethral.
– Belastungsinkontinenz: ist die Beobachtung von unfreiwilligem Harnverlust aus der Harnröhre simultan mit körperlicher Anstrengung, Husten oder Niesen (Hustentest).
– Extraurethrale Inkontinenz entspricht der Beobachtung von Harnverlust unter Umgehung der Harnröhre.
– Inkontinenz unklarer Ätiologie entspricht der Beobachtung von unfreiwilligem Harnverlust, der auf Basis der Symptome und klinischen Untersuchung nicht in eine der oben angeführten Kategorien klassifiziert werden kann.
– Vaginale Untersuchung: Prolaps der Beckenorgane ist definiert als das Tiefertreten von einem oder mehrerer anatomischer Abschnitte (vordere Scheidenwand, hintere Scheidenwand, Apex der Scheide oder des Scheidenstumpfes). Der Prolaps kann in vier Schweregrade unterteilt werden: Grad 1: Tiefertreten der Beckenorgane bis zum Hymenalsaum Grad 2–4: Prolaps der Beckenorgane außerhalb des Hymenalsaums Mit Hilfe von 3 Punkten (A, B und C) kann der Untersucher eine objektiv nachvollziehbare Beschreibung des Prolaps der Beckenorgane liefern.
– Beckenboden-Muskelfunktion: Sie kann qualitativ durch die rektale Untersuchung in Ruhe und unter aktiver Kontraktion als stark, schwach oder fehlend definiert werden. Eine weitere Bewertungsskala stellt die Oxford- Klassifikation 1–5 dar.

C. Urodynamischer Befund und Beobachtungen während der urodynamischen Untersuchung

Urodynamische Techniken: Die konventionelle urodynamische Untersuchung versteht sich mit artifizieller Füllung der Blase, die über einen Katheter mit bestimmter Flüssigkeit und bestimmter Füllungsgeschwindigkeit vorgenommen wird.
– Langzeiturodynamik ist definiert als funktioneller Test des unteren Harntrakts, wobei eine natürliche Blasenfüllung erfolgt und den Aktivitäten des täglichen Lebens nachgegangen wird. Natürliche Blasenfüllung bedeutet, daß die Blase durch die Harnproduktion gefüllt wird.
– Füllungscystometrie: Dabei wird die Druck-/Volumen-Beziehung der Blase während der Füllphase gemessen und die Blasensensitivität beurteilt.
– Entleerungscystometrie (Druck-/Fluß- Messung): Dabei wird die Beziehung zwischen Druck in der Blase und Harnfluß während der Blasenentleerung gemessen.
– Geschwindigkeit der Blasenfüllung: Physiologische Füllgeschwindigkeit ist definiert als jene Füllgeschwindigkeit, die geringer ist als die Formel Körpergewicht in kg : 4, ausgedrückt als ml/Min.
– Nichtphysiologische Füllungsgeschwindigkeit ist definiert als Füllgeschwindigkeit, die größer ist als die physiologische.
Blasensensitivität während der Füllungscystometrie:
– Erster Harndrang: entspricht jenem Gefühl während der Füllungscystometrie, das den Patienten veranlassen würde, bei der nächsten Gelegenheit die Blase zu entleeren. Die Miktion kann jedoch, wenn nötig, hinausgezögert werden.
– Starker Harndrang: entspricht dem Blasengefühl während der Füllungscystometrie, bei dem ein ständiges Verlangen besteht, die Blase zu entleeren, jedoch keine Angst vor Harnverlust vorliegt.
– Gesteigerte Blasensensitivität während der Füllungscystometrie bedeutet, daß der erste Harndrang bereits bei niedrigem Blasenvolumen kontinuierlich besteht (kleiner als 100 ml Blasenvolumen).
– Verminderte Blasensensitivität bedeutet ein Auftreten des ersten Harndranges erst bei bereits großer Blasenfüllung (über 300 ml).
– Fehlende Blasensensitivität: Indirektes Füllungsgefühl: während der Füllungscystometrie können andere Empfindungen als der Harndrang wie z. B. Völlegefühl im Unterbauch oder vegetative Symptome eine gefüllte Blase anzeigen.
– Blasenschmerzen
– Imperativer Harndrang als Hinweis auf eine pathologische Situation infolge des nicht zu beherrschenden Dranges.

Detrusorfunktion während der Füllungsphase:
Detrusorhyperaktivität: unwillkürliche Detrusorkontraktionen während der Füllungsphase, die spontan oder auf Provokation auftreten.
– Zwei Muster von Detrusorhyperaktivität können unterschieden werden: Phasische Detrusorhyperaktivität ist durch charakteristische Wellenform gekennzeichnet und ggfs. von Harnverlust begleitet. Terminale Detrusorhyperaktivität entspricht einer einzelnen unwillkürlichen Detrusorkontraktion bei Erreichen der cystometrischen Kapazität, die nicht unterdrückt werden kann und die zur nicht verhinderbaren Miktion führt.
– Detrusorhyperaktivität mit Inkontinenz bedeutet Harnverlust aufgrund von unwillkürlichen Detrusorkontraktionen.
– Detrusorhyperaktivität soll nach Möglichkeit nach der zugrunde liegenden Ursache unterteilt werden in:
Neurogene Detrusorhyperaktivität (anstelle der Detrusorhyperreflexie) Nicht neurogene Detrusorhyperaktivität (idiopathische) anstelle des bisherigen Begriffes der Detrusorinstabilität.
– Blasen-Compliance beschreibt die Relation zwischen Volumensänderung der Blase und Änderung des Detrusordruckes. Hier wird eine niedrige Compliance (< 20) von einer normalen Compliance unterschieden.
– Phasische Detrusorhyperaktivität darf in die Compliance-Berechnung nicht einbezogen werden.
– Cystometrische Kapazität ist das Blasenvolumen am Ende der Füllungscystometrie und setzt sich zusammen aus dem Miktionsvolumen und jeglicher Restharnmenge.
– Maximale Blasenkapazität unter Anästhesie ist das Volumen, bis zu dem die Blase unter tiefer allgemeiner oder spinaler Anästhesie gefüllt werden kann. Sie ermöglicht die Erfassung struktureller Veränderungen der Blasenwand.

Harnröhrenfunktion während der Füllungscystometrie:
– Normaler Harnröhrenverschlußmechanismus
– Inkompetenter Harnröhrenverschlußmechanismus
– Harnröhrenrelaxierung mit Inkontinenz
(früher instabile Urethra) bedeutet Harnverlust aufgrund einer Harnröhrenrelaxation in Abwesenheit von intraabdomineller Druckerhöhung oder Detrusorhyperaktivität.
– Urodynamische Belastungsinkontinenz: unfreiwilliger Harnverlust bei intraabdomineller Druckerhöhung in Abwesenheit von Detrusorkontraktionen während der Füllungscystometrie. Bewertung der Harnröhrenfunktion während der Füllungscystometrie:
– Drucktransmission (Ratio) ist die intraurethrale Drucksteigerung bei körperlicher Belastung als Prozentsatz der simultanen intravesikalen Drucksteigerung. Auf diese Weise wird in der proximalen Harnröhre die passive und im mittleren Harnröhrendrittel die aktive Drucktransmission berechnet.
– Leak-point-pressure entspricht dem intravesikalen Druck, bei dem aufgrund einer intraabdominellen Druckerhöhung in Abwesenheit einer Detrusorkontraktion Harnverlust resultiert. Diese intraabdominelle Druckerhöhung kann entweder durch Husten oder durch Pressen generiert werden (cough oder Vasalva-Leakpoint- pressure)
– Detrusor-Leak-point-pressure ist definiert als der niedrigste Detrusordruck, bei dem in Abwesenheit von Detrusorkontraktionen oder erhöhtem intraabdominellem Druck Harnverlust resultiert. Dieser Meßparameter hat vorrangig bei der neurogenen Blasenfunktionsstörung Bedeutung. Entleerungscystometrie
– Detrusorfunktion während der Miktion
Normale Detrusorfunktion
Abnormale Detrusorkontraktilität kann unterteilt werden in:
Detrusorhyperkontraktilität entspricht der Hochdrucksituation der Blase, ggf. mit einer prolongierten Kontraktion kombiniert.
Detrusorhypokontraktilität: Detrusorkontraktion mit reduzierter Kraft und/oder Dauer, dies führt zur verlängerten Blasenentleerung und/ oder zu Restharn. Detrusorakontraktilität bedeutet das Unvermögen, bei Erreichen der Blasenkapazität normale intravesikale Drücke aufzubauen. Kann unter Untersuchungsbedingungen während einer Cystometrie keine Spontanmiktion ausgelöst werden, kann daraus nicht automatisch von einer Detrusorakontraktilität gesprochen werden.
– Harnröhrenfunktion während der Miktion: Blasenauslaßobstruktion ist die generelle Bezeichnung für eine Obstruktion während der Miktion und ist charakterisiert durch einen erhöhten Detrusordruck und einen reduzierten Harnfluß. Detrusor-Sphinkter-Dysfunktion ist charakterisiert durch einen nicht relaxierenden oder sich intermittierend kontrahierenden quergestreiften Sphinkter während der Miktion bei neurologisch unauffälligen Individuen. Detrusor-Sphinkter- Dysynergie beschreibt eine Detrusorkontraktion in Kombination mit unwillkürlichen Kontraktionen der quergestreiften Sphinkter-Muskulatur mit meist reduzierter Flow-Rate bei neurologischen Ursachen. Auch hier kann entweder eine intermittierende oder permanente Kontraktion der Sphinkter- Muskulatur festgestellt werden.

D. Diagnosen

Definitive Diagnosen ergeben sich aus der Erfassung der Symptome (Anamnese), der klinischen Untersuchung und der urodynamischen Untersuchung bzw. der Feststellung anderer Pathologien wie Harnwegsinfekt, Prostatahyperplasie.
– Akute Harnretention
– Chronische Harnretention: Dieses klinische Erscheinungsbild kann mit Harninkontinenz vergesellschaftet sein.
– Benigne Prostatahyperplasie

E. Behandlung

– Rehabilitation des unteren Harntrakts
– Beckenbodentraining
– Biofeedback
– Verhaltenstherapie
– Elektrische Neuromodulation/Neurostimulation
– Katheterismus:
Intermittierender Katheterismus Intermittierender Selbstkatheterismus Hygienischer Katheterismus (engl. CIC): unter Verwendung einer sauberen Technik, d. h. hygienische Reinigung der Hände, des Meatus und mit wiederaufbereitetem Katheter Aseptischer intermittierender Katheterismus: unter Verwendung steriler Utensilien sowie Desinfektionsmittel Dauerkatheter: transurethral oder suprapubisch. Zeitpunkt für Katheterwechsel materialabhängig. Blasenexpression: kann durch Bauchpresse oder Credemanöver erzielt werden. Gefahrlose Anwendung nur bei geringem Blasenauslaßwiderstand gegeben.

Literatur: Abrams P, Cardozo L, Koury S, Wein A (eds). Incontinence. 2nd International Consultation on Incontinence, Paris, 1-3 July 2001. Plymbridge Distributors Ltd., Plymouth, UK.

*) F. Bliem, M. Budinsky, F. Dietersdorfer, M. Ebner, M. Fischer, P. Gebhartl, N. Häusler, H. C. Klingler, M. Knoll, W. Lüftenegger, H. Madersbacher, J. Pferschy, A. Riedl, S. Überreiter, J. Wachter